Sonntag, 19. April 2009

Ich suche nach Dir.

Ich sehe mich, elfjährig, mit dem schwarzen Stoffhund unter dem Arm auf der Landstraße, wütend,Tränen im Gesicht. Die Beine tragen mich, sie führen mich, aber sie gehören längst nicht mehr zu mir. Ich bestehe nur noch aus Angst und Wut, aber auch: Abenteuer, Verbotenes, Herzklopfen. Kein du. In den Gedanken an später gibt es die bald böse, bald reuige Vaterstimme, die Beklommenheit über das Mutterschluchzen, aber keine Bruderarme.

Ich sehe mich, fünfjährig, vielleicht auch vier, am Teich stehen, Fische füttern, Beine ins Wasser baumeln, die leise Berührung der teuren Fische an meinen Zehen. Sehe mich hineingleiten, will mit den Fischen schwimmen, untergehen. Sehe die hastenden Vaterbeine, der Mutterschrei, aber keine Bruderfüße. Kein du. Nirgendwo.

Ich sehe das Bild von uns. Ich in einem rosa Wollkleid, von der Großmutter gestrickt, du greifst darauf lachend um meine Kinderhüften, umspannst sie ganz. Wenn ich die Augen schließe, kann ich noch die Aufregung spüren, das Kratzen des Kleides auf der Haut, aber keine Bruderhände. Warst du wirklich dort?

Ich sehe mich sechsjährig, mit der hellblauen Schultüte in der Hand, wie mein kurzer Rock: hellblau mit großen, weißen Rosen. Sehe die Haushälterin Sybille stehen zwischen all den Eltern, sehe den Stolz in ihren Glanzaugen, den Mut in den Polstern ihrer Teighände. Die Süßigkeiten kullern aus der Tüte in meine gierigen Finger. Ich freue mich, ich freue meine Einsamfreude. Kein Bruderlachen. Nirgendwo. Wo warst du? Kein du. Nie. Nicht. Nirgends.

Die Erinnerungen an dich, den ewigen Besucher meiner leeren Tage, konserviere ich in einem Einmachglas und kann heute nicht mehr sagen, welche wirklich ist war, welche ich mir nur wünschte wünsche. Die Fanta4-CD mit dem Blumenmusterrohling, das Trainspottingvideo, das erste Camusbuch, dich sitzend am Schreibtisch. Dich als ich noch nicht ich war, sondern in dem unzulänglichen Kinderkörper steckte.

Heute sagen sie mir, du seist stolz auf mich. Hast du das gesagt? Oder wissen sie alle was ich hören will? Kennst du mich? Wo warst du? Ich frage aus Neugier, ohne Vorwurf: Wo warst du? Erinnerst du dich? Ich erinnere mich nicht.
Das Haus meiner Kindheit: Sybille in der Küche, kochend. Die Mutter im Ankleidezimmer, goldschmuckbehangen, den Vater vor dem Fernseher, fußballschauend oder vielleicht in weiter Ferne auf einer Baustelle, in einem Büro. Und dich auf einem Foto an der Wand.

Wo warst du, warum finde ich dich nicht?
Du bist 13 Jahre älter, das ist doch so viel auch nicht. Aber wir, du und ich, haben es zu einer Lebenslänglichkeit werden lassen.

Was verbindet uns außer den Vaterhaaren und der Mutternase? Gibt es eine Geste, ein Lachen, etwas, dass wir früher schon einmal getan haben?

Wo warst du? Ich erinnere mich nicht.

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