Ein Menschenfresser

Sonntag, 28. Februar 2010

Einer, der ein Netz hat


Wenn Finn die Vögel hört,
denkt er an die Kindheit. An Dreckberge und Steckenbrückenbau und an leerer werdende Erdbeerschüsseln. Er dreht und wendet dann, Erinnerung in den kleinen, nun großen Händen herum und findet sie einfach nur so, nur so. Man soll, sagt Finns Mutter, man soll die ja nur dann herausholen, wenn es ganz dunkel ist und dann nur ein wenig, nur ein bisschen, gerade so betrachten und befühlen und an ihnen schnuppern. Und aufpassen, nur im Kerzenschein sie anzusehen, weil sie im grellen Licht so schnell verblassen, bis sie dann nur noch graue Bilder sind.
Finn hat immer so sehr aufgepasst, hat immer nur einen winzigen Wimpernschlag gekostet, nur den Moment genossen, eigentlich auch nur gefühlt, mehr denn geschaut und sie, die flüchtigen Glückdinge, dann wieder in die Tasche gepackt, gut geschützt, nicht mit viel Synapsen am ganzen Rest angebracht. Er hat immer so sehr auf sie geachtet. Hat sie auch niemand anderem gezeigt, nur sich selbst, manchmal vielleicht, manchmal hat er etwas erzählt, aber immer grad viel mehr dazu gedichtet um also das kleine so sehr auszuschmücken, dass es eine Geschichte ist, weil auch das kleine schon etwas erzählt. Vielleicht nur leise, aber wenn man stiller ist als sonst, dann kann man hinterher doch laut darüber lachen.
Jedenfalls hat Finn wirklich Acht gegeben, war wirklich auf der Hut. Und nun, wenn Finn die Vögel hört und an die Höhle denkt, die er mit einem Freund gebaut hat am Abhang und die feuchten Decken auf denen sie saßen, dann ist Finn ganz leer. Er hat es doch tot gemacht, hat es doch abgenutzt, das verblichene Glückding, das nun nur noch ein Abbild an der Schädeldecke ist. Eine Projektion, die nichts mehr erzählt. Er hat all die Momente verschenkt.
Und nun, was machen? Wo so selten noch, viel seltener als früher noch welche dazukommen, wo von tausend Sekunden nur noch eine einzige zum Bruchteil zählt, wo früher aberhundert Dinge glückten. So ist das mit den Glückdingen und den Erinnersachen. Das sind so erst ganz selbstverständliche und dann ganz kostbare und schließlich sind sie so unscheinbar nur noch, dass man, weil die ganze Umgebung so laut geworden ist, sie nicht mehr bemerkt, an ihnen vorbeiläuft.
Finn ist blind geworden, findet das Licht nicht.
Aber heute denkt Finn, heute will ich einmal wieder mehr sein als nur ein Junge in einem Männerkostüm. Heute will ich mir einen sandfarbenen Anzug anziehen, mit einem Safarihut darauf und ein Netz in der Hand halten, ein großes mit Maschen, dass sie nur Luft hindurch lassen, nur das, was zwischen den Momenten ist. Will sie einfangen, all die Eindrücke, Tatenschmetterlinge und will wieder Hände schütteln, als hingen sie an Menschen.

Samstag, 30. Januar 2010

Kein Singen

Finn schleppt den Tannenbaum aus dem Zimmer, reißt an ihm, sticht sich an ihm und nadelt den Boden voll, macht ihn grün. Draußen ist es eisenkalt, betonhart. Der Fliesenboden schickt ihm Impulse durch die Füße, direkt ins Hirn: Frost. Finn steht, bis der Schmerz einsetzt, bis die Zweifelhaftigkeit der Wirkung aufhört, vielleicht auch etwas Angenehmes gewesen zu sein. Seine Lippen sind blau, violett, an ihnen klebt noch immer das Blut des Abends, der Rioja.
Später entzweien Borodins Geigen die Welt und Finn sitzt am Schreibtisch. Er denkt ans Nichts, immer denkt Finn ans Nichts, als hätte man ihm es aufgetragen, als verdiene er damit etwas. Draußen, in schwindelnder Höhe, baumelt die letzte rot glänzende Kugel am Baum und der Wind wird sie forttragen, wenn er sich anschickt zu kommen. Es ist kein Singen in der Welt, es ist kein Tanzen. Und Finn spürt hinter der Musik und den Wolken die Leere. Alles lauterdrehen, alles augenverschließen, alles nichtig, alles umsonst, es ist kein Singen in der Welt und kein Tanzen.
Finn steht in der Küche und rührt im silbernen Topf. Er schüttet die Nudeln auf den Teller und schluckt die graue Masse fast ohne zu kauen. Sie schmecken, wie sie schmecken, belanglos. Aber sie stillen die Bedürfnisse des Körpers, die dem Geist im Wege stehen. Einst hatte Finn die Käsekruste auf Gratin gemocht, die flüssige Sahne am Grunde eines Erdbeerbechers und die Griesklößchen in der Suppe. Aber heute hat die Routine alles zunichte gemacht, sie zum Nichts gemacht. Früher hat Finn gedacht: Ein Leben reicht nicht für die Welt und heute denkt er: Eine Welt reicht nicht für das Leben. Jedenfalls nicht diese, nicht diese. In der kein Singen mehr ist, in der nie eines war.
Als sie anruft und ins Telefon spricht, hallt ihre Stimme lang in der Muschel seiner Ohren nach und Finn denkt an einen Mahlstrom, in den er sie stürzen will. Ihre Engelstimme und das Brausen des Ozeans vermischt auf Ewigkeit, als Hintergrundbild seines Seins. Aber Finn ist kein toter Gott, Finn ist ein Mensch, er kann sie nicht bannen und der Welt nichts schenken, was er nicht besitzt. Finn lauscht verzehrend und gierig, kurz vorm Ersaufen und als sie auflegt, ist der Raum grauer, noch stiller als zuvor. Und Borodins Geigen haben die Welt entzweit.

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