Mittwoch, 9. Juli 2008

Wie wir leben

Obwohl sie mir direkt ins Gesicht schaute, schreckte sie zusammen als ich nach einer langen, schweigenden Weile zu sprechen begann. Ganz so als würde sie der Klang meiner Stimme überraschen oder an etwas erinnern, blickte sie mich einen kurzen Moment wie einen unerwünschten Störenfried an. Am wahrscheinlichsten erschien mir der Gedanke ihr sei klar geworden, dass sie mir ihr Leben zu erzählen versprochen hatte und dieser Umstand gleichsam bedeutete es auch sich selbst zu erzählen. Und in Ilse Bellingers Fall war das sicherlich kein Zuckerschlecken. Weniger ihre grauen Haare, ihre feinen, unzähligen Fältchen um Augen und Mund oder ihr oft ausdrucksloser Blick sagten etwas über ihr Alter aus als dass es vorhanden war, viel mehr ihre jahrzehntelang getragene Kleidung und die Abwesenheit eines wirklichen Haarschnitts zeigten, dass sie sich auch so fühlte. Sie ging immer gebückt, den hängenden Kopf kaum tragen könnend, rieb sie die Hände zu ewiger Sorge verdammt ineinander. Nicht fünf Minuten waren an ihrem heutigen Morgen darauf verwendet worden das schmeichelhaftere Selbst zu präsentieren und ich riet dies lag nicht nur an meinem Besuch, sondern an der Gewohnheit. Sie blickte mich durch die Trübheit ihrer ungeputzten Brille höflich lächelnd an, aber die frisch zerkaute Unterlippe zeigte deutlich Anspannung und vielleicht Widerwillen. Im Prinzip war ich Eindringling in ein geruhsames Dasein des Selbsteingerichtetseins im Unglück der Vergangenheit und in das natürliche Recht auf einen friedlichen Lebensabend, bestehend aus der Ablenkung mittäglicher Quizshows und dienstäglicher Strickabende. Selbstgefälliges Ich.
Als ich sie eines Tages bat mir jene Geschichte zu erzählen, deren Wucht ein ganzes Leben in ungleiche Stücke gerissen hatte und welche nie wieder gekittet werden konnten, reagierte sie als hätte ich sie durchaus beleidigt und stritt verständlicherweise ab zu wissen was ich meine. Ins Schweigen verfallen rührte sie unendlich die Zuckermoleküle in den Schwarztee, ihr Blick fand keinen Fixpunkt in dieser Welt. Dass sie auf meine Frage so reagierte war sicherlich der beste Gegenbeweis für ihre Antwort, aber ich schwieg ebenfalls. Einen solchen Schritt jenseits die Intimitätsgrenze eines Menschen zu gehen, war sowieso gewagt und ich wollte die klitzekleine Chance, die man hat um die Wahrheit zu erfahren, nicht kaputt machen. Als der Tee ihr süß genug schien, sagte sie nur: "Kommen sie an einem anderen Tag wieder, heute nicht. Vielleicht nächste Woche." In Gedanken nahm ich die Einladung an und ging ohne ein Wort. Gegenüber älteren Leute fehlt mir oft die Förmlichkeit, da ich dazu neige anzunehmen ihnen sei deren Belanglosigkeit genauso bewusst wie mir und in Ilses Fall traf dies entweder zu oder aber ihre Meinung über junge Leute war ohnehin schon schlecht. Jedenfalls hat sie es mir weder an den unzähligen Tagen vor diesem Gespräch übel genommen, noch an dem einen danach.
Als wir also eine Woche später bei einem herrlich bestreuselten Stück Apfelkuchen wie immer auf der Terasse des botanischen Gartens saßen und ich die große Mühe erkannte mit der sie über das nachdachte was wir Leben nennen und was uns alles bedeutet, aus keinem anderen Grund als dass es alles ist, was uns zuletzt bleibt, wurde mir klar, dass ich völlig falsch gelegen hatte. Nicht das was wir erleben zählt, sondern nur das, woran wir uns erinnern. Ich tat aus dem schillernden Glaskelch die cremig süße Schlagsahne auf ihren und meinen Kuchen und blinzelte in die Richtung ihrer Gedanken. "Wie wäre es, wenn ich Ihnen erzähle, wie sie gelebt haben?" Die alte Frau wandte ihr Gesicht, das mit der Sonne um die Wette strahlte, wieder mir zu und kurz darauf dem Sahneturm auf ihrem Kuchen. "Das ist eine wirklich schöne Idee, junge Frau."

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